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Karl-Heinz Wirth schuf die legendäre Stadtkarte von 1936 – jetzt starb er im Alter von 103 Jahren
Karl-Heinz Wirth war tief mit dem alten Potsdam verbunden. Vor Augen hatte er aus frühester Kindheit stets ein ganz besonders Bild: „Ich habe die ersten drei Jahre meines Lebens in einem Haus am Bassinplatz mit Blick auf die Nikolaikirche gewohnt“, berichtete er 2019 als damals bereits 100-Jähriger: „Danach sind meine Eltern nach Babelsberg gezogen, wo ich aufgewachsen bin.“ Kindheit und Jugend erlebte er im damaligen Nowawes in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen Karl-Lieb- knecht-Stadions. Seine spätere Ehefrau Hildegard wuchs zwei Ecken weiter in der Karl-Gruhl-Straße auf. Wirth war Sohn eines Malermeisters. Als Gehilfe seines Vaters tünchte er in den 1930er Jahren Wände in den neu erbauten Estorff-Villen an der Schwanenallee. Gern erzählte er von einer Baustelle in einem Haus von Filmschau- spielern in Kladow mit Alkohol auf dem Kamin: „Den haben sich die Lehrlinge reingeholfen.“
Schildermaler der Briten
Beizeiten entdeckten sie sein grafisches Talent. Zur Potsdamer Konferenz der Weltkriegs-Siegermächte im August 1945 arbeitete Karl-Heinz Wirth als Schildermaler für das englische Militär: „Es gab sehr viel zu tun. Jede Kaserne, jede neue Behörde brauchte neue Schilder.“
Nach der Konferenz folgte er einer Einladung der Engländer in den britischen Sektor von Berlin. Dort widmete er sich neben der Schildermalerei auch der Kar- tografie: 1957 zeichnete Karl-Heinz Wirth einen ersten dreidimensionalen Stadtplan der Berliner City-West mit akribisch dargestellter Architektur aus der Vogelschau, dem über die Jahre weitere Arbeiten dieser Art mit Motiven vom Berliner Funkturmgelände über die Autostadt Wolfsburg bis zur Insel Sylt folgen sollten.
Anfang der 1950er Jahre zog er nach Bielefeld – in die Nähe des Bertelsmann- Konzerns, der zu einem seiner wichtig- sten Auftraggeber werden sollte. In all der Zeit danach hatte er „nie die Verbindung zu Potsdam verloren“, sagt der Potsdamer Fotograf Lutz Hannemann, der über Jahrzehnte mit dem Grafiker befreundet war.
Als 1989 die Mauer fiel, war Karl-Heinz Wirth längst im Rentenalter. Die Ereig- nisse rund um Berlin verfolgte er aus der Ferne. Die Erinnerung an das nach Weltkrieg und Sozialismus an vielen Ecken der Innenstadt kaum noch erkennbare alte Potsdam aber wurde nun zu seiner Passion.
Ein aus der Vogelperspektive gezeich- neter Stadtplan der historischen Potsda- mer Innenstadt sollte zu den besonderen Geschenken für die Landeshauptstadt zu ihrer 1000-Jahrfeier 1993 werden: „Es war mir eine Herzensangelegenheit“, sagte er später. Die im Original zwei Meter breite und knapp 1,3 Meter hohe Karte zeigt die Potsdamer Stadtmitte um 1936 zwischen Planitzinseln und dem Eingang zum Stadtkanal am Kellertor, zwischen Charlottenstraße und dem Gegenufer der Neuen Fahrt zur Freund- schaftsinsel.
Sehr gut erkennbar sind schon von weitem prägnante Bauwerke wie die Garni- sonkirche und der Lange Stall, das Stadtschloss, die Nikolaikirche und das massige Geviert der Hauptpost am damaligen Wilhelmplatz, der Palast Barberini mit seinem zur Alten Fahrt hin geöffneten Innenhof und die Heiliggeistkirche auf dem Ufervorsprung zum Tiefen See.
Sandig hell ist die Platzanlage des Lustgartens koloriert, mit einem von Wegen durchzogenen Wäldchen, das sie vom Bahndamm und dem Landvorsprung Am Hinzenberg trennt. Augenfällig sind die rasengrüne Plantage mit ihrem Wegekreuz und der von doppelten Baumreihen gesäumte Wilhelmplatz. Tramgleise in feinem Schwung
Exakt gezeichnet sind nach zwei Jahren Arbeit nicht nur die Straßen, Bäume und all die kleinen und größeren Bürgerhäuser; selbst die Straßenbahngleise ziehen in feinem Bleistiftschwung von der Langen Brücke über die Humboldtstraße und den Alten Markt hinauf zum Kanal und weiter über die Nauener und die Straße am Wilhelmplatz in den Westen und den Norden der einstigen Preußenresidenz.
Spektakulärste Finesse aber war der unter winzigen dichten Bäumen blau schimmernde Stadtkanal mit seinen neun Brücken, der sich mit einem rasan- ten Knick an der Waisenstraße/Ecke Am Kanal quer über diesen Stadtplan zog. Immer wieder kam der Grafiker zu Recherchen für dieses monumentale Werk mit seiner Frau Hildegard nach Potsdam in einem Bulli, in dem sie dann auch übernachteten. Lutz Hannemann schildert lachend, wie sie mit 140 Stun- denkilometern über die Autobahn fuh- ren, wie der Grafiker immer wieder ein- mal beruhigend die Hand auf den Schenkel seiner Frau legte und sagte: „Mensch Hilla, ras doch nicht so.“ Die beiden, sagt der Fotograf, „waren ein ganz liebenswertes Ehepaar“.
Meist führte sie ihr Weg ins Potsdam- Museum, wo er, unterstützt von den Stadthistorikern Hartmut Knitter und Hannes Wittenberg, unzählige Fotogra- fien und Abbildungen der historischen Potsdamer Innenstadt sichtete, auf der Suche nach Stadtlandschaften, Perspektiven und Details.
Bilderflut aus dem Jahr 1936
Sie hatten ihm einen eigenen Arbeitsplatz hergerichtet, erzählt Hannes Wittenberg: „Er hat bei uns im Haus gezeichnet.“ Stundenlang habe Frau Hilla gesessen und Bilder in die Höhe gehalten für ihren Mann, der sie akribisch studierte. 1936 diente als Orientierung, „weil sich aus diesem Jahr die größte Bilderflut erhalten hat“, sagt der Historiker.
Während der Arbeit erlitt der Grafiker einen Schlaganfall. Ehefrau Hilla und Sohn Peter halfen bei der Vollendung des Bildes. Krankheitsbedingt wurde die Potsdamer Innenstadt zum letzten Werk aus der Feder des Meisters, musste er Abschied nehmen von seinen Plänen für ein weiteres Kartenwerk mit dem Holländischen Viertel aus der Vogelper- spektive. Das von Karl-Heinz Wirth von Potsdam gezeichnete „historische Stadtbild zur 1000-Jahrfeier“ mit den Medaillons der Preußenkönige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. in der oberen rechten Ecke und mit einer Windrose links unten fand über die Jahre einen Platz in unzähligen Potsdamer Wohnungen.
Bis heute kein Fehler entdeckt
Eine Abbildung in den originalen Maßen hängt im Clubhaus von Eon-Edis in der Straße Am Kanal. Die eigentliche Arbeit mit den feinen Skizzen und Zeichnungen all der alten Potsdamer Gebäude aber wird im Potsdam-
Museum aufbewahrt. „Gerade erst haben wir wieder darüber geredet“, sagt Hannes Wittenberg: „Bis heute haben wir auf diesem Stadtplan mit all seinen Details keinen Fehler entdeckt.“
Am 18. November ist der Grafiker und Kartograph Karl-Heinz Wirth, der sei- ner Geburtsstadt Potsdam aus der Ferne auf so bemerkenswerte Weise die Treue hielt, nach Mitteilung der Familie im Alter von 103 Jahren in Bielefeld verstorben.